Christian Walter ist Geschäftsführer und Redaktionsleiter von swiss made software. Bis Ende 2010 arbeitete er als Fachjournalist für das ICT-Magazin Netzwoche, publizierte zuletzt aber auch im Swiss IT Magazin, der Computerworld sowie inside-it.
Staatliche und private Versicherungsunternehmen müssen ihre IT automatisieren. Um dabei die Kosten tief zu halten, kommt immer häufiger Standardsoftware zum Einsatz. Gelingen kann dies aber nur mit Branchen-Know-how und Kundennähe.
Versicherungen wollen die Dunkelverarbeitungsquote erhöhen. Was für Branchenfremde leicht dubios klingen mag, ist nichts anderes als die Automatisierung der Geschäftsvorfälle. Im Idealfall läuft die Prüfung von Rechnungen und Belegen künftig sogar ganz ohne Sachbearbeiter. Adcubum, Hersteller von Standardsoftwarelösungen für Versicherer, sieht allein bei den Schweizer Krankenversicherern ein Sparpotenzial von mindestens 200 Millionen Franken im Schweizer Markt. Verglichen mit den Gesamtkosten des Gesundheitswesens von 70 Milliarden Franken ist dies zwar nur wenig, dennoch steht dieses Element stellvertretend für grössere Umbrüche. Gemeint ist die Industrialisierung der Versicherungs-IT. «Sie hinkt etwa zehn Jahre hinter den Banken her», so Gerhard Storz, CSO der Adcubum AG.
Doch unlängst hat die Aufholjagd begonnen. Gerhard Storz liest dies schon allein an der Anzahl Ausschreibungen für Standardsoftware ab: «Waren es vor einigen Jahren noch eine bis zwei Ausschreibungen pro Jahr, ist es heute die gleiche Menge im Quartal», so Storz. Mit einer Standardsoftware soll eine bereichsübergreifende Optimierung der Geschäftsprozesse erreicht werden. Gleichzeitig wollen die Versicherer die Fähigkeit erwerben, schneller auf technologische und regulatorische Änderungen zu reagieren. «Eine durch Stan-dardsoftware gesteuerte Fallbearbeitung sollte automatisch an Regularien angepasst werden und so neue Vorschriften schneller erfüllen», erklärt Storz.
Ungeprüft durchwinken
Zum Zuge kommen will Adcubum hier mit adcubum SYRIUS, der hauseigenen ERP (Enterprise Resource Planning)-Software für Versicherer. Sie wurde in enger Zusammenarbeit mit Kunden aus der Branche entwickelt und wird ständig um neue Module erweitert – zum Beispiel zur Erhöhung der Dunkelverarbeitungsquote. Bisher war es Standardpraxis, kleine Rechnungen mehr oder minder ungeprüft durchzuwinken. Kein Wunder, bedenkt man, dass einzelne Versicherungen leicht einige Millionen Belege im Jahr erhalten. Die Rechungskontrolle ist ein personal- und zeitintensiver Prozess. Detaillierte Kontrollen konzentrierten sich deshalb fast nur auf Rechnungen mit höheren Beträgen. So kommt es immer wieder vor, dass Ärzte oder Spitäler Leistungen verrechnen, die sie nicht erbracht haben oder abrechnen dürften. Genauso werden Medikamente abgerechnet, die nicht mit der Diagnose zusammenpassen oder Tarife verrechnet, die nicht mit den vereinbarten Richtlinien übereinstimmen. Zu diesem Schlamassel tragen auch Versicherte bei, die Behandlungsbelege einreichen, welche nicht versichert sind.
Dabei ist häufig keine böse Absicht im Spiel. Die Abrechnungsvorschriften der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) sind sehr umfangreich. So kennt die OKP über 100 Tarife mit mehr als 130'000 Positionen. Tarmed, der Tarif für ambulante Leistungen, enthält 4600 Tarifpositionen, und Galdat, der Tarif für Medikamente, welcher ab 2015 durch den InsurIndex der e-mediat abgelöst wird, über 120'00 Tarifpositionen. Man sieht also, dass eine vollständige manuelle Prüfung sehr arbeitsintensiv wäre und ein hohes Expertenwissen erforderte.
Nähe zum Kunden
Kein Wunder, dass Adcubum mit seinen Vorschlägen zur Automatisierung schon 2003 auf Interesse stiess. Allein an der Möglichkeit zur Umsetzung herrschten Zweifel. 2007 kam der Stein jedoch ins Rollen: Die Helsana-Gruppe schrieb die Ablösung und Erneuerung ihrer IT aus. Adcubum erhielt den Zuschlag und stach internationale Grossunternehmen aus. Punkten konnten die St. Galler durch Kenntnis des lokalen Marktes sowie Nähe zum Kunden. Teil des Projekts war ein neues Modul mit Namen E-Claim Plus. Seine Funktion: Die automatische Abarbeitung von Rechnungen und Belegen. Zur Umsetzung bildeten Helsana und Adcubum gemischte Entwicklungsteams. Unter anderem galt es das Modul so zu bauen, dass 150'000 Belege in 240 Minuten abgearbeitet werden können.
Ab 2009 machte sich Adcubum an die Realisierung. E-Claim Plus sollte in vier Etappen bis Mitte 2012 eingeführt werden und erste Verarbeitungen ab 2010 möglich sein. Gesagt, getan. Seit März 2011 werden alle Belege durch E-Claim Plus verarbeitet. Grundlagen des Moduls sind die Verwaltung der Leistungserbringer wie Ärzte, Spitäler, Apotheken und Therapeuten, aber auch die Ablage aller Verträge und Qualifikationen. Dabei halten die Qualifikationen fest, welche Leistungen und Beträge ein Leistungserbringer abrechnen darf. Zu leben beginnt das Modul aber erst durch ein Regelwerk (Entscheidungstabelle), in dem alle möglichen Kombinationen von Tarifen wie Tarmed oder Pharma, Tarifpositionen und Leistungserbringern, Versicherten et cetera als Regeln abgebildet werden. Jede Regel wiederum kann bestimmte Aktionen auslösen. Das Zusammenspielen von Verwaltung und Regelwerk ermöglicht, jede Rechnung ohne Medienbruch bis auf Detailebene zu überprüfen. Ebenfalls miteinbezogen werden können vertragsübergreifende Informationen sowie frühere Rechnungen und Zahlungen.
Nach Deutschland unterwegs
Um die vereinbarte Verarbeitungsgeschwindigkeit von 150'000 Belegen in 240 Minuten zu erreichen, waren im Vorfeld umfangreiche Tests nötig. Optimiert wurde nicht nur das Regelwerk für eine maximale Verarbeitungsgeschwindigkeit, sondern auch die Hardware. Ein Vorgang, der ohne das grosse Know-how der Hard- und Softwareingenieure kaum möglich gewesen wäre. Aber auch dieses konnte nur durch die Verknüpfung von Mitarbeitenden beider Unternehmen in Projektteams entstehen. «Am Ende sprachen die Ergebnisse Bände. Bei der Abnahme des Systems verarbeitete E-Claim Plus die 150'000 Belege sogar 30 Minuten schneller als verlangt, näm-lich in 210 Minuten», berichtet Gerhard Storz. Der eigentliche Innovationswert von E-Claim Plus liegt jedoch in der Flexibilität der Konfigurationsmöglichkeiten. Jeder Kunde kann das Modul auf seine eigenen Bedürfnisse, speziellen Produkte, auf die spezifischen Vereinbarungen mit Leistungserbringern, aber auch auf jede gesetzliche Veränderung hin konfigurieren.
Mit diesem Projekt setzt sich die erfolgreiche Geschichte von Adcubum fort, die sich auch an der Entwicklung der Mitarbeiterzahlen ablesen lässt. Noch 2008 arbeiteten knapp 100 Personen für die St. Galler. Heute sind es 220, also mehr als doppelt so viele. Anführen lässt sich ausserdem die Tatsache, dass heute über die Hälfte der Schweizer ihre obligatorische Kranken- und Pflegeversicherung bei einer Versicherung haben, die adcubum SYRIUS einsetzt.
Doch zufrieden ist man in St. Gallen noch nicht. «Wir wollen weiter wachsen und gehen deshalb auf den deutschen Markt. Die Privatversicherer dort haben sehr ähnliche Modelle wie in der Schweiz. Das eröffnet uns Chancen», so Storz.
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