Interview Roger Gisi: «Wollen wir uns digital kolonialisieren lassen?»
Mit seiner Plattform «Digitale Schweiz» macht sich der Unternehmer Roger Gisi für die Digitalisierung der Schweiz stark. Allerdings attestiert er Bund und Wirtschaft noch zu wenig Bewusstsein für die nötigen Schritte.
Mehr zu Roger Gisi- Christian Walter:: Herr Gisi, wie würden Sie den Stand der Digitalisierung in der Schweiz charakterisieren?
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Roger Gisi:: Schizophren. Auf der einen Seite ist die Digitalisierung in aller Munde und auch von der Politik im Rahmen verschiedener Strategien offiziell beschlossen; auf der anderen Seite weigern wir uns zu handeln, in Wirtschaft wie in Politik.
- Können Sie ein Beispiel nennen?
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Vor Kurzem wurde eine Motion zu «durchgängig elektronischen Behördenleistungen» vom Bundesrat zurückgewiesen. Kurz darauf hat der Ständerat die Einführung des neuen Mobilfunkstandards 5G blockiert – wohl für die nächsten fünf Jahre. Dabei sind diese beiden Themen in mehreren Strategien definiert, verankert und vom gleichen Bundesrat und Parlament verabschiedet
worden (Strategie Nachhaltigkeit 2030, eGov-Strategie, Strategie Digitale Schweiz). Unsere angeblichen «Zukunftslenker» handeln also gar nicht gemäss den selbst entworfenen Plänen. Ganz überraschend ist dieser Mangel an Weitsicht nicht, bedenkt man, dass wir uns des hohen Exportanteils der ICTIndustrie rühmen und das Bundesamt für Statistik dennoch nicht einmal einen Branchenindex angelegt hat.
- Ist Digitalisierung nicht einfach ein Hype?
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Ja und Nein. Medial gesehen schon, allerdings steht dahinter ein realer Vorgang. Wenig sexy gesagt, sehe ich in der Digitalisierung die konsequente Fortsetzung der Industrialisierung – allerdings mit höherem Tempo und in einer globalisierten Welt.
- Dann sollten wir doch damit umgehen können.
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Ganz so einfach ist es nicht. Das Ausmass der Veränderung und die daraus resultierenden Möglichkeiten haben eine andere Ebene erreicht. Um das zu erkennen, fehlt es uns leider an Führungspersönlichkeiten – nicht nur in der Politik, sondern auch in praktisch allen Sektoren der Wirtschaft. Hätten wir seit ungefähr drei Jahren nicht den Digitalisierungs-Hype, würde sich niemand um die Potenziale der Informationstechnologie zu Gunsten von Wirtschaft, Staat und Privatleben kümmern. Insofern bin ich dem Hype nicht verfallen, aber dankbar, dass es ihn gerade gibt.
- Sie malen ein düsteres Bild. Was läuft schief – und besteht Hoffnung?
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Zugegeben, das Erkennen von echtem Wandel ist gar nicht so einfach. Aber so, wie unser Parlament zurzeit zusammengesetzt ist, haben wir auch kaum eine Chance. Während es zahlreiche Vertreter für Bauern, Banken oder Pharma gibt, kümmern sich zu wenige um die Interessen der ICT. Dabei wäre gerade die Zukunftsindustrie ICT mit ihrem gesamten Ökosystem wirklich systemrelevant für unsere Volkswirtschaft und für unser Land. Aber haben Sie das schon von einem Bundesrat gehört? Düster ist, dass wir aus unserer Geschichte heraus, mit all dem Wachstum und Wohlstand, es nicht geschafft haben, die führende Digital-Nation überhaupt zu werden. Stattdessen bewundern unsere Bundesräte in anderen Ländern die Elektronische ID und Gesundheitskarten. Da läuft doch einiges schief – aber die Schweiz hat in ihrer Zeitgeschichte schon sehr viel Anpassungsfähigkeit bewiesen, teils auch ohne grossen Leidensdruck. Insofern, doch, es besteht schon Hoffnung!
- Gerade jetzt gibt es doch Bewegung – eine neue SwissID ist lanciert und mit Twint gibt es ein nationales Bezahlsystem.
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Das ist nicht falsch. Aber gerade die E-ID ist ein leidiges Thema. Bereits 2006 lagen dazu verschiedenste Grundlagendokumente vor. Zwölf Jahre Stillstand und ein gescheiterter Versuch waren das Ergebnis. Ich will der neuen SwissID und Twint gern eine Chance geben, aber ob sie sich durchsetzen, bleibt abzuwarten. Zumal der Bund sich wieder einmal darum drückt, seine hoheitliche Aufgabe bei der E-ID wahrzunehmen. Wie soll da Vertrauen in der Bevölkerung entstehen? Gewisse Dinge kann man nicht outsourcen. Was mich vor allem wundert, ist, dass die lieben Parlamentarier ihre Alltagserfahrungen nicht übertragen können.
- Was meinen Sie damit?
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Die Digitalisierung hat ja auch Auswirkungen auf Gesellschaft und Privatleben. Sie begleitet uns also auf Schritt und Tritt. Da sollte es doch möglich sein, die Erfahrungen von einem Bereich in den anderen zu tragen. Das macht auch Sinn, denn die Frage nach dem Digitalen in Unternehmen kann nicht losgelöst von der Frage nach dem Digitalen in der Gesellschaft und bezogen auf das Selbst – die individuelle Ebene – gestellt und beantwortet werden.
- Was wäre ein Lösungsansatz für eine «Digitale Schweiz»?
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Wir müssen realisieren, dass Digitalisierung nicht einfach Sache des IT-Leiters ist. Sie beginnt bei jedem Einzelnen im Kopf. Deswegen brauchen wir auch in allen Bereichen, auf allen Stufen mehr Menschen, die erst einmal diese Herausforderungen grundsätzlicher Art verstehen. Vernetztes, offenes, kollaboratives und interdisziplinäres Denken ist gefordert – also mit neuem Management die Prozesse aus der Perspektive des Kundennutzens anzugehen. Das fängt mit uns Bürgern als Kunden des Staates an. Wollen Sie in fünf Jahren immer noch die handschriftlich ausgefüllte Zählerstandkarte auf die Post bringen? Als kompetente Bürger des 21. Jahrhunderts sollten wir nicht zwischen den Instanzen unseres föderalen Systems unterscheiden, sondern ein breit und durchgehend realisiertes DigitalGovernment nutzen und davon profitieren können – also konkret für die Mehrwertsteuer, die Steuererklärung, die AHV-Abrechnung, die gesamte elektronische Administration der Gemeinde usw.
- Ist das nicht genau der Sinn der Digitalen Roadmap?
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Theoretisch ja, aber wie anfangs bemerkt, scheint das beim Bund niemanden zu interessieren. Was wir jetzt brauchen, sind konkrete Milestones und Budgets. Wir müssen Ernsthaftigkeit signalisieren. Und dann müssen wir nach der Wirkung priorisieren und vorgehen. Darin haben wiederum die Themen einen hohen Stellenwert, die einerseits langfristig ausgelegt sind und andererseits trotzdem schnell Wirkung auf allen Stufen unserer Volkswirtschaft zeigen. Ich denke da an «Neues Arbeiten», wo alle ihre Arbeitsweisen auf die digitalen Innovationsnetzwerke umstellen müssen, an die Bildung und Ausbildung, wo die digitale Integration in die Berufssysteme dringender denn je angegangen werden muss, an die Gesundheitsversorgung und an die Mobilität. Dass es dazu die Infrastrukturen von Telefonie, Energie, Internet und Breitband braucht, muss ebenfalls noch mehr umgesetzt werden. Vieles ist in der Schweiz an verschiedensten Stellen unterschiedlich weit gediehen. Wir müssen einfach an Synchronisation und Geschwindigkeit zulegen. Niemand wartet auf uns; wir können das einsehen oder uns digital kolonialisieren lassen.
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