Christian Walter ist Geschäftsführer und Redaktionsleiter von swiss made software. Bis Ende 2010 arbeitete er als Fachjournalist für das ICT-Magazin Netzwoche, publizierte zuletzt aber auch im Swiss IT Magazin, der Computerworld sowie inside-it.
Der KI-Hype entspricht den Gesetzmässigkeiten der üblichen Hype-Cycle-Mühlen und verdeckt gleichzeitig, dass es (Schweizer) Alternativen zu grossen Angeboten gibt.
KI wird die Menschheit zerstören. KI wird die Menschheit retten. Aussagen wie diese füllen zurzeit die Medien. Allein die Tatsache, dass solche Superlativen bei jeder Gelegenheit ausgepackt werden, sollte uns dazu veranlassen, sie mit der nötigen Skepsis zu betrachten. Doch es ist schwer, sich vom Hype zu befreien. Zu mächtig ist mittlerweile das Gewicht des Ausdrucks KI, der selbst bei den technologie-fremdesten unserer Mitmenschen Visionen von Skynet und Weltuntergang beschwört.
Deswegen zunächst ein kleiner Life-Hack: Ersetzen wir KI durch den Begriff SALAMI (Systematic Approaches to Learning Algorithms and Machine Inferences), verliert die Technologie schnell ihren Nimbus. Die Idee hatte der italienische ITler und Ex-Parlamentarier Stefano Quintarelli. Zwei Beispiele: «Ist diese KI intelligent?» oder «Verdient diese KI Menschenrechte?» werden so zu «Ist diese SALAMI intelligent?» und «Verdient diese SALAMI Menschenrechte?».
Follow the money
Doch woher kommt der aktuelle SALAMI-Hype? Die Gründe sind vielseitig. Natürlich hat die Technologie einen neuen Reifegrad erreicht. Dies aber auch zu einem Zeitpunkt, wo so viele Tech-Seifenblasen wie schon lange nicht mehr zerplatzt sind. Der Crypto-Crash oder die Implosion des Metanets sind nur zwei Beispiele und Symptome einer grösseren Malaise – den steigenden Zinssätzen.
Geld ist nicht mehr gratis und das ist eine neue Welt für viele im Valley. 15 Jahre wurden Geschäftsmodelle gefördert, die nie einen Gewinn abwerfen mussten. Es dürfte ein grosses Einhornsterben folgen. Gleichzeitig muss ein neues Thema her, um die notorisch von Hypes getriebene Tech-Branche zu stabilisieren.
Hier kommen die SALAMIs ins Spiel. Natürlich handelt es sich um mächtige Technologien mit einem breiten Anwendungsspektrum, die die Zukunft mitprägen werden. Dennoch werden die erfolgreichsten dieser Anwendungen wohl wenig mit den aktuell vorgestellten Beispielen gemein haben.
Das wird schnell klar, wenn man sich einige der wichtigsten Protagonisten des SALAMI-Hypes ins Gedächtnis ruft. Die Liste der passenden Tech-Bros ist lang, deswegen hier nur zwei Beispiele: Peter «Competition is for suckers» Thiel und Elon «I bought Twitter for 40 billion now it’s worth maybe 8» Musk. Beide hatten schon früh in OpenAI, den zurzeit wohl am stärksten gehypten SALAMI-Produzenten, investiert.
Beide Akteure sind bekannte Protagonisten jedes Hype-Cycles der letzten 20 Jahre und sie vertreten nicht die Interessen der Menschheit (offener Brief hin oder her), sondern die ihres Portfolios. «Follow the money» ist nach wie vor ein solider Grundsatz, um sich im Marketing-Dschungel zurechtzufinden.
Die eigenen finanziellen Interessen beschützt man unter anderem durch die Ablehnung jeglicher Verantwortung für die negativen Folgen neuer Technologien. «Nicht unsere Firma trägt die Verantwortung, sondern die SALAMI». Dies ist ein Nebeneffekt der Vermenschlichung der Technologie («Hat diese SALAMI ein Bewusstsein?»). Hier wird den Produkten Handlungsfähigkeit zugeschrieben statt den Organisationen, die sie entwickeln. Und die vorgebliche Angst um das Ende der Menschheit hält auch niemanden davon ab, die Entwicklung voranzutreiben.
Verantwortungsbefreite Technologie
Praktisch geschieht das bereits an amerikanischen Gerichten, wo vielerorts Angeklagte algorithmisch danach beurteilt werden, wie wahrscheinlich sie wieder ein Verbrechen begehen würden. Die Richter verwenden diese Bewertungen, um die Höhe der Kaution festzusetzen, aber auch für die Schwere von Urteilen. Verschiedene Untersuchungen zeigen deutlich, das dunkelhäutige Menschen per se schlechter dastehen.
Gleichzeitig steigt der Druck, diese Technologien in immer weiteren Bereichen einzusetzen – in der Medizin (wer erhält welche Behandlung) oder bei Bewerbungen (wessen Lebenslauf landet bei einem Menschen).
Wie bei anderen neuen Technologien werden die ersten Iterationen an schwachen Bevölkerungsgruppen ausprobiert (Flüchtlinge, Häftlinge, Kinder) und migrieren dann die Salärstufen hinauf. Technologien, die entwickelt wurden, um die Arbeiter bei Amazon zu überwachen, werden heute aufs Home Office angewendet.
Leider spielen sich diese Dinge nicht nur in Übersee oder einer möglichen Zukunft ab, sondern sind etwas, für das sich die Schweizer Politik aktiv einsetzt. Wie Adrienne Fichter jüngst in der «Republik» offenlegte, macht sich die Schweiz dafür stark, Bürgern nur «wo angemessen» ein Widerspruchsrecht gegenüber Entscheidungen einer SALAMI-Technologie einzuräumen. Mit anderen Worten: Eine Bürgerin soll nicht zwingend das Recht haben, sich gegen eine SALAMI-Entscheidung zu wehren (etwa bei der Einschätzung der Kreditwürdigkeit) und stattdessen eine Beurteilung durch einen Menschen zu verlangen.
Die Schweiz war federführend daran beteiligt, diese Idee in einem Positionspapier des KI-Komitees des Europarats zu verankern.
Schweizer Alternativen
Wie unsere SALAMI-Zukunft aussieht, ist noch nicht klar, dennoch sollten sich alle interessierten Menschen in der Schweiz mit Szenarien abseits des oben beschriebenen auseinandersetzen.
Wie bereits erwähnt, ist die Technologie mächtig und nützlich. Sie funktioniert ausserdem auch ohne den Datenstaubsauger eines US-Big-Techs, um spannende Alternativen zu trainieren. Am letzten «It’s about tech»-Event von Swiss Made Software in Basel gewährten Firmen wie CSEM, Parashift und Ti&m Einblicke in ihre laufenden SALAMI-Projekte. Dabei kam übereinstimmend heraus, dass die Qualität der Daten wichtiger ist als das Modell. Und Datensätze für spezialisierte Anwendungen kommen häufig vom Kunden. Man muss also nicht Milliarden in Datenstaubsauger investieren, um die Vorteile der neuen Technologie in allerlei Anwendungen zu packen.
Vielleicht wäre es für die Schweiz also besser, in spezialisierte Forschung zu investieren sowie in die Kuratierung von Datensets für klare Anwendungen, als sich als Lobbyist für amerikanische Tech-Firmen in Europa zu verdingen. Dies auch in Anbetracht des Top-Forschungs- und Industrieumfelds, das hierzulande existiert. Statt immer dem letzten Valley-Trend hinterherzulaufen, könnte man sich auf die eigene unternehmerische Vergangenheit besinnen und gezielt in Technologien investieren, bei denen die Akteure bereit sind, öffentlich Verantwortung zu übernehmen. Dann muss man nur noch auf den absehbaren KI-Meltdown warten und kann sich global als Alternative positionieren.
Relevante Links
Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag aus dem unten verlinkten Event.
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